Teilprojekte

Transformation der Heiligenlegende in der Moderne: Faszination Franz von Assisi  

Emma Louise Brucklacher

Ein Hauch der Provokation mag durchaus mitschwingen, wenn der renommierte Kritiker Hermann Bahr 1926 nicht nur resümiert, «an allgemeiner Beliebtheit k[ö]nn[e] sich kein anderer Heiliger mit Franziskus messen», sondern den mittelalterlichen santo gar zum «Schutzheiligen der Ungläubigen» erklärt. Gleichzeitig liegt eben in dieser interkonfessionellen, über eine traditionell christlich-katholische Heiligenverehrung hinausgehenden Faszinationskraft der Schlüssel zum außergewöhnlichen Nachleben des umbrischen Kaufmannssohns zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Was aber war es, das Menschen, und insbesondere Nicht-Katholiken, an Franz von Assisi faszinierte? Warum und zu welchem Zweck beriefen DichterInnen sich im frühen 20. Jahrhundert auf einen mittelalterlichen Heiligen? Und in welchem Verhältnis stehen legendarische Form und moderne Aneignung, Tradition und Innovation? Als schabloniert-präformierte Medien religiöser Heilsvermittlung waren Heiligenlegenden im europäischen Mittelalter weit verbreitet. Obwohl sie in der Frühen Neuzeit prominent von Luther als ‹Lügenden› diskreditiert und seit der Aufklärung aus ihrem engeren pragmatischen Rahmen herausgelöst worden waren, fungierten Legenden in der Moderne keinesfalls ausschließlich als metapoetische Kritik. Stärker als das legendarische Erzählen des 19. Jahrhunderts, das sich vor allem an ihrem Faszinationswert abarbeitete, erhielt das generische Erzählen vom Heiligen um die Wende zum 20. Jahrhundert als Kontrapunkt einer zunehmend als ‹gottlos› empfundenen Gegenwart eine neue ethische Dimension. So griffen paradoxerweise verstärkt SchriftstellerInnen der vermeintlich säkularen Moderne auf die vormodern-sakrale Gattung der Legende zurück, um sich in einer Zeit, die den direkten Zugang zur religiösen Sphäre verloren zu haben meinte, dem Heiligen anzunähern. Gerade weil legendarischem Erzählen sowohl sakrale Postulate als auch narrative Strategien einer metaphysischen Wirklichkeitserfahrung inhärent sind, erweisen sich Heiligenlegenden der Hochmoderne als erzähltechnische, ethisch-theologische und kulturelle Innovationsräume. Strukturell dominant zeigt sich der Rückbezug auf die Ideale der jesuanischen Bergpredigt, indem statt Selbstkasteiung und Geißelung zu radikaler Nächstenliebe, Pazifismus und Achtung der Tierwürde aufgerufen wurde. Das Teilprojekt stellt jene Heiligenfigur ins Zentrum, welche die Antithesen und Seligpreisungen der Bergpredigt wohl am radikalsten zu ihrem Imperativ erhob und auf das frühe 20. Jahrhundert einen besonderen Reiz ausübte: «Nach einer solchen Persönlichkeit, wie sie Franz dem dreizehnten Jahrhundert bot, geht auch die unsagbar große Sehnsucht unseres Zeitalters», postulierte Erwin Schiprowski 1926. Ausgehend von der epochemachenden Wirkung der Franziskus-Vita Paul Sabatiers (1893) entstanden ab 1900 zahlreiche legendarische Bearbeitungen des Umbriers, der seine Herkunftsfamilie mitsamt deren Reichtum verliess und Gottes Ruf folgte. So schrieb Hermann Hesse 1904 die Vita des Franz von Assisi, den Klabund in seiner Geschichte der Weltliteratur (1922) als den «ersten bedeutenden Dichter in italienischer Sprache» pries. Rilkes Stunden-Buch (ED 1905) endet mit einem lyrischen Porträt des «grosse[n] Abendstern[s]» der «Armut», woraufhin der Verfasser selbst von Alfons Petzold in dessen Franziskus-Sammlung 1918 antonomastisch als «Bruder Franz dieser Zeit» gerühmt wird. Es sind vorrangig vier Aspekte, welche die Moderne an Franziskus faszinierten: seine Armutsliebe, sein Dichtertum, seine Naturverbundenheit sowie seine immer wieder beschworene ‹seraphische› Gottesliebe. Tatsächlich wurde Franziskus mehrfach nicht nur zur persönlichen, sondern sogar epochalen Identifikationsfigur erhoben, etwa wenn er, versetzt in die Schrecken des Ersten Weltkrieges, umfassendes Leid beklagte und gleichsam Trost spendete. Legendarisches Erzählen und so auch das Erzählen vom ‹heiligen Franz› wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum Brennspiegel gesellschaftlicher und philosophischer Vorstellungen, Wünsche und Utopien. Das Paradox: Avantgardistisch schien nun plötzlich die Rückwendung zur mittelalterlichen Theologie – und zu deren Formen. War die Gegenwelt bislang vor allem im fernen Osten und dessen Philosophien gesucht worden, fand sich nun eine als universal gedeutete Christlichkeit, die, sublimiert zur Ethik, im Heiligen Franziskus von Assisi ihren figuralen Ausdruck fand. Indem der Rückgriff auf scheinbar vormodern-einfache Muster zeitgenössisch zur Antwort auf hochmodern-komplexe Fragen und Probleme gemünzt wurde, erhielten aktuelle Forderungen eine sakral-historische Tiefendimension, die als kulturpolitische Argumente die prekäre Gegenwart formen sollten. Das Teilprojekt beleuchtet Franziskus als Faszinosum, das dem frühen 20. Jahrhundert als Denkfigur diente; der mittelalterliche Heilige wurde zum modernen Zuschreibungs- und Rezeptionsphänomen. So liefert die Aufarbeitung der forscherlich bislang vernachlässigten literarisch-modernen Franziskus-Rezeption auch einen Beitrag zur Mentalitäts- und Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts sowie zur komplexen Verflechtung von Religion und Moderne.

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Heiligendramen um 1800

Anita Martin

Heiligendramen besiedeln als heterogene Gattungskonglomerate fast lückenlos die europäische Literaturgeschichte und bewegen sich dabei zwischen Trivialität und heiligem Ernst genauso elegant wie zwischen Lesung, Liturgie und Spektakel. Das Teilprojekt untersucht, wie alte Formen des Sakralen um 1800 in romantischen Tragödien, dramatischen Gründungsmythen oder Schwänken ihre Erfolgsgeschichte auch in der Unterhaltungsindustrie einer vermeintlich säkularisierten Moderne fortführen.
Die Funktionsweisen sakraler Szenen um 1800 sollen mit Blick auf ein repräsentatives Korpus untersucht werden: Es erstreckt sich von Legendendramen (Tiecks Leben und Tod der heiligen Genoveva) über Märtyrer(innen)dramen (Schillers Maria Stuart und Die Jungfrau von Orleans, das Maltheser-Fragment), dramatische Gründungsmythen (Werners Wanda. Königin der Sarmaten, Klingemanns Kreuz des Nordens), dramatisierten Apokryphen (Werners Mutter der Makkabäer) bis hin zum christlichen Schwank (Arnims Päpstin Johanna). Die ausgewählten Stücke verbindet ein Formalkomplex: Auf der eine Seite gibt es narrativ dominierte Lesedramen, die zu epischer Länge anschwellen; auf der anderen Seite stehen theatrale Bühnenstücke, die weniger mit Handlung, dafür aber mit viel «Pomp» überwältigen. Heiligendramen um 1800 liegen nicht in prototypischen Reinformen vor, sondern kulminieren in verschiedensten Aggregatzuständen, die alle mehr oder weniger narrativ, theatral und lyrisch-musikalisch inspiriert sind.
Zu den Darstellungsmodi der modernen Heiligendramen kommen drei Themenkreise, die mehr oder weniger von allen Stücken deutlich bearbeitet werden und zentrale Diskussionsfelder der Bedingungen des Sakralen in der Moderne reflektieren. Erstens warten ca. achtzig Prozent der zu untersuchenden Texte mit Protagonistinnen auf. Diese Dominanz weiblicher Figuren lässt sich allerdings keiner Emanzipation gleichsetzen, denn die Figuren prägen weniger durch ihre Aktion als durch ihre Handlungsohnmacht den Gang der Dramen und sie sind es, die oft als ›schablonenhaft‹ kritisiert werden. Zweitens werden Heiligendramen gerne zu konfessionellen Propagandazwecken genutzt. Die verführerischen Formen der «zeremoniellen Spektakel» katholischer Liturgien und Feste üben gegenüber den inwendig gekehrten pietistischen Besinnungsübungen der reformatorischen Bewegungen eine Faszination auf die Poesie aus. Drittens ist die Romantik spätestens seit Novalis’ Die Christenheit oder Europa (1799) eng mit den Nationen Europas in Beziehung gesetzt. Um 1800 spezifizieren Heiligendramen diesen Bezug in Hinblick auf ein produktives inhaltliches und formales Archiv, das zum Setzkasten der Text(re)produktion wird: Französische Legenden werden in deutsche Städte importiert und mithilfe spanischer, italienischer und englischer Modi der Präsentation zu romantischen Heiligendramen transformiert.

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Das Geistliche Lied der Moderne. Literatur, Religion und Politik einer

Felix Kraft 

Das Geistliche Lied ist eine Gattung der Moderne. Zahlreiche Beispiele um und nach 1800 zeigen die Lebendigkeit einer Form, die mit dem anbrechenden Zeitalter vermeintlicher Säkularisierung zum Versuchsfeld verschiedener gesellschaftlicher Bereiche avanciert. Die Texte nehmen dabei nicht nur Bezug auf ihre literarischen Vorgänger, sie setzen sich vor allem mit jeweils historisch aktuellen formästhetischen, konfessionellen sowie politischen Problemkomplexen auseinander. Ausgehend von exemplarischen Transformationen des Geistlichen Liedes ab 1800 – u.a. bei Novalis, Annette von Droste-Hülshoff und Christina Rossetti – soll daher das Profil einer nicht nur deutschen, sondern auch europäischen Gattung nachgezeichnet werden, die textuell, medial und performativ bisher unerforschte Innovationen hervorbringt.

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